Jetzt noch glauben?

Glauben heißt nicht Wissen. So heißt es zumindest oft. Und bisweilen ist damit implizit der Gedanke verbunden, dass Wissen besser ist als Glauben und der Glaube nur eine Krücke ist für Dinge, die wir (noch) nicht wissen. Wir sind sehr geprägt von den Wissensfortschritten der Naturwissenschaften der letzten zwei Jahrhunderte. Zur Redlichkeit gehört aber auch dazu, dass all die vielen naturwissenschaftlichen Theorien und Beweise sich selbst (!) immer unter dem Vorbehalt stellen, dass eine neue Theorie möglicherweise die Wirklichkeit besser erklären kann. Und bisweilen geschieht das ja auch. Die Relativitätstheorie Einsteins war ein Meilenstein in der Physik, die vieles durcheinandergewirbelt hat, und auch in anderen Bereichen werden Theorien mit neuen Daten, Erkenntnissen und Experimenten abgeglichen und weiterentwickelt. Das wichtigste Mittel des Menschen für den Erkenntnisfortschritt ist dabei die Vernunft. Und das gilt auch in der Theologie. Die Bibel einfach nur als vom Himmel gefallenes göttliches Buch zu lesen, das wortwörtlich zu verstehen ist, lässt völlig außer Acht, dass die biblischen Schriften eine Entstehungs- und Redaktionsgeschichte hinter sich haben, zu einer ganz bestimmten Zeit mit spezifischen Umständen aufgeschrieben wurden und jeweils neu in das Leben der Menschen hinein übersetzt und ausgelegt werden müssen. Da wo das nicht geschieht, verstricken sich die Menschen in heil-lose Widersprüche und gehen nicht selten an der Intention der frohen Botschaft vorbei. Oftmals werden dann für die eigene Überzeugung unbequeme Stellen und Erkenntnisse aus der Wahrnehmung ausgeblendet und die Bibel zu einem Steinbruch, aus dem man sich nur das raussammelt, was den eigenen Zwecken und Ängsten dienlich ist. Ich kenne keinen ernstzunehmenden katholischen Theologen, der heutzutage behaupten würde, die Schöpfungserzählungen der Bibel seien historische Tatsachenberichte, wortwörtlich zu nehmen und mit naturwissenschaftlichen Theorien wie der Urknalltheorie oder der Evolutionslehre völlig unvereinbar. Im Gegenteil eröffnet das biblische Glaubens-Zeugnis eine (Sinn-)Dimension, die die Naturwissenschaft aus sich heraus nicht ergründen kann. Dass es Gott gibt, lässt sich ebenso wenig beweisen wie das Gegenteil. Aber jeder, der sich für die eine oder andere Überzeugung entscheidet, muss dabei für sich selbst überprüfen, ob sich seine Überzeugung vernünftig begründen lässt. Für mich erscheint es vernünftiger, dass unsere Existenz trotz aller Makel und Schwächen einen liebenden Urgrund (Gott) hat. Erfahrungen wie Liebe, Hoffnung und Vertrauen scheinen mir unvernünftig und ins Leere zu laufen, wenn es die absolute Liebe – Gott nicht gibt. Er ist die Quelle für jede menschliche Liebe und der Garant, dass sie in den Endlichkeiten dieses Lebens nicht verloren geht. Die Liebe hört niemals auf! Dennoch kann ich mit Respekt den Menschen begegnen, die sich diesen Fragen stellen und sie für sich mit Hilfe der Vernunft anders beantworten.
Schwerer tue ich mich mit Menschen, die versuchen mit aller Macht ihre Weltsicht durch eine Basta-Mentalität zu verteidigen und vor jeglichen kritischen Anfragen zu schützen. Solche Menschen gibt es auf beiden Seiten. Wirklich befremdlich finde ich es aber, wenn bis in die höchsten Kreise in unserer Kirche bei bestimmten Fragen, die Bibel dann doch wieder als Steinbruch missbraucht wird, um entgegen theologischer, insbesondere bibelwissenschaftlicher – und auch humanwissenschaftlicher Erkenntnisse jedes Reformanliegen im Keim zu ersticken. Die dringende Überprüfung der Sexualmoral, der Ämterfrage, der Ökumene, der Frage nach Gleichberechtigung der Geschlechter und des Umgangs mit Menschen in pastoralen Notlagen sind nur einige Beispiel, bei denen theologische Forscher zu Neubewertungen kommen. Dagegen steht die zunehmende Immunisierung von Entscheidungsträgern, die sich die immer selben Steine aus Schrift und Tradition rausbrechen als Beweise für ihre zementierte Sichtweise. Anknüpfungspunkte in Schrift und Tradition für einen anderen Umgang mit bestimmten Fragen werden ignoriert oder geleugnet. Die Behauptung, es gäbe nur den einen unveränderbaren katholischen Glauben lässt sich mit vielen Beispielen aus der Kirchengeschichte widerlegen. Die schon erwähnte Frage der Entstehung der Welt oder aber die Frage, was mit ungetauften verstorbenen Kindern geschieht sind nur zwei beliebig herausgegriffene Beispiele. Zur Selbstimmunisierung gehört auch, Menschen die Verlautbarungen des Lehramtes mit vernunftbasierten Argumenten kritisch anfragen, als Abtrünnige, Häretiker oder Kirchenspalter zu diffamieren. Das alles geschieht dann oft mit dem Hinweis, es gehe darum die Einheit der Kirche zu bewahren. Interessant daran ist, wie schnell und scheinbar mühelos diejenigen, denen die Einheit der Kirche so wichtig scheint, die Einheit mit Kritikern einseitig aufkündigen. Glaube wird hier reduziert auf das Fürwahrhalten von Sätzen, deren kritische Überprüfung mit den Mitteln verunftbasierter Argumente kategorisch verweigert wird. Persönliche Erfahrungen mit diesem menschenfreundlichen Gott, und die Vorstellung, dass Glaube sich nicht ausschließlich im Lehramt, sondern auch in der persönlichen Gottesbeziehung eines jeden einzelnen Christen und vor allem in der Gemeinschaft aller Christen vollzieht, haben da keinen Platz.
Das Argument Schaden von der Kirche abzuwenden wurde in den vergangenen Jahren oftmals als Triebfeder und Rechtfertigung für den völlig unzulänglichen Umgang mit sexualisierter Gewalt und anderen Formen des Missbrauchs innerhalb unserer Kirche genannt. Schaden sollte aber gar nicht von der Kirche abgewendet werden, sondern lediglich von einem bestimmten Personenkreis, der sich selber als “die Kirche” identifizierte. Aber die Opfer gehörten genauso zur Kirche wie die Täter und die Vertuscher. Die von innen und auch von außen betriebene ständige Identifizierung der Kirche mit Papst, Kurie, Bischöfen oder Klerikern ist eine unzumutbare Verkürzung.
Jetzt noch glauben? Mein Glaube ist durch viele Feuer gegangen. Ganz persönliche Glaubenserfahrungen und –Zweifel, haben mich den Glauben an Gott Vater, Sohn und Heiliger Geist immer wieder überprüfen lassen. Glaube war und ist eine große Bereicherung meines Lebens. Und auch die Biblische Botschaft und die vielen Rituale unserer Kirche haben meinen Glauben gestärkt. Dafür bin ich dankbar. Das kann mir keiner nehmen. Auftrag dieser Kirche ist es, die frohe Botschaft zu den Menschen zu bringen. Dass dies gerade in dieser Zeit kaum gelingt, liegt nicht an den Menschen, sondern an der Kirche selbst. Aber die Kirche den Kräften zu überlassen, die allzu schnell ihre eigene Überzeugung mit dem Willen Gottes gleichsetzen, kann und werde ich nicht. Ich muss bleiben, auch wenn es manches Mal zum Verzweifeln ist. Selbst dann, wenn andere mich dadurch für einen Komplizen oder Mittäter eines selbstgerechten und menschenverachtenden Systems halten. Aber ich glaube an einen Gott, der sich den Armen und Bedrängten zuwendet, der mit Sündern und Zöllnern am Tisch saß, der durch sein Leben, Sterben und Auferstehen gezeigt hat, dass die Liebe stärker ist als aller Hass, alle Gewalt, alle Angst und aller Tod. Die Kirche ist die Gemeinschaft aller Glaubenden. Und so schnell lasse ich mich nicht aus ihr vertreiben. Ich kann bleiben. Nur eins kann ich nicht (mehr). Kritiklos hinnehmen, wenn das Wohl des Systems oder bestimmter Anschauungen über das Wohl von Menschen gestellt wird. Menschen, die Gott ohne Vorbedingung liebt. Das glaube ich – Jetzt erst recht.
Der Beitrag erschien in gedruckter Form im Pfingstpfarrbrief 2021 der Kirchengemeinde St. Nikolaus Münster
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